Thursday, February 7, 2013

Eine Zugfahrt, die ist nicht immer lustig... (zweimal lesen notwendig. Beim zweiten Mal mit Fusznoten)


Heutzutage gibt es kaum eine "Kleiderordnung" mehr unter den verschiedenen Gruppierungen unserer Zeit. Emos sehen manchmal aus wie Gothics, Frauen können wie Männer aussehen, Kinder wie Erwachsene, Ökos wie Hippies oder sogar Spießer, Industrials sehen schier aus wie Avatar Darsteller, normale Menschen werden als Metros bezeichnet oder als Nazis abgestempelt, wenn bei den Herren die schwarze Jeans zu eng sitzt. Ich erkannte zwei rechtsdenkende Menschen nur an ihrem Gespräch. Hier ein Versuch des Nacherzählens dieser Begegnung - mit Fusznoten [1].




Ich fahre mit der letzten Verbindung der Bahn von Berlin zurück nach Bochum [2]. Es ist ein leiser und schneller ICE, der voll besetzt durch die Nacht zischt. Wieder mal sitze ich rückwärts, weil mein Glück es mir immer beschert. Warum reserviere ich überhaupt noch einen Platz bei den neuen Preisen? Ach ja, weil man sonst vielleicht auf dem Boden sitzen darf. In meiner Nähe sitzt ein frisch verliebtes Paar [3]. Ich sehe von ihm nur den Arm. Hören kann ich, dass sie säuseln, was das Zeug hält. Süß, oder?
Als der Zugbegleiter erscheint stellt sich heraus, dass die beiden (nennen wir sie Max und Leni) keine Fahrkarte haben, weil sie spontan fahren mussten. Ohne mit der Wimper zu zucken zahlen sie beide zusammen 240Euro für eine Fahrt bis Dortmund. Sie sehen nicht danach aus, als ob sie reich wären, aber muss ja jeder selber wissen. Am Berliner Hbf hätten die Tickets immerhin 60Euro weniger gekostet [4].
 
Etwa eine Stunde vor Hamm Westfalen wird es schlagartig leerer. Neben mir wird der Vierer komplett frei und das Pärchen wechselt ihren Sitzplatz. Ich bin hundemüde und schließe die Augen. Auch, weil ich keine Lust habe, das noch so süße Paar beim kuscheln zu zu gucken. Max der für mich typische Punk mit Springerstiefeln, Leni eher die schüchterne und schokoladenliebende Hausfrau in lila [5]. Angenehme Stimmen haben sie. Das fand der Hund meiner Sitznachbarin wohl nicht, der knurrte ab diesem Zeitpunkt in regelmäßigen Abständen [6]. Sie kuscheln sich ineinander und er spricht davon, wie sehr er glaubt, dass die beiden eine Zukunft haben, weil sie national gesehen die gleichen Ansichten teilen. Ich glaube, dass ich mich verhört habe, werde wacher. Ich nehme meine Sonnenbrille vom Kopf um mich beim weiteren Versuch, einzuschlafen, vor dem grellen LED Licht zu schützen [7].



Er strahlt sie an, sie strahlt zurück. Kontrapunktistisch spricht Leni davon, wie sie vom Exmann misshandelt wurde und ihre Familie ihr nicht geglaubt hat. Die Familie hat ihr sowieso eine verkorkste Kindheit bereitet. Auch tauschen sie Geburtsdaten aus. Max findet es total toll, dass er fast 100 Jahre nach Hitler geboren wurde, Leni meint sie passen total gut zusammen, weil sie am 8.8. Geburtstag hat [8]. Dann sprechen sie davon, dass ihr Vater vermutlich nichts von Max halten wird [9], weil er sie schon am Telefon als Nazihure beschimpft hat. Max lacht und sagt, dass ihm das immer [10] passiert.


Plötzlich sprechen sie von Kindererziehung. Und, wie die Nationalsozialisten Familienpolitik sehr gut praktiziert haben. Seine Kinder sollen ohne Internet und Fernsehen aufwachsen. Zum Spielen sollen sie in den Wald gehen. Als perfektes Beispiel redet er von einer Familie von Gleichgesinnten, deren Kinder einmal am Tag Nachrichten schauen dürfen und dann mit den Eltern darüber reden müssen. Genial findet er, dass die Kinder selbst entscheiden dürfen, wen sie verehren und findet es amüsant, dass die Kinder die Eltern überzeugen wollen, dass man den Führer [11] allein verherrlichen muss. Die Eltern würden Heß [12] bevorzugen. Max findet, dass es so total eigenständig ist, wie diese Kinder denken dürfen. Er würde sich das für seine Eigenen auch wünschen. Leni bejaht alles und ihr strahlen lässt nicht nach. Auch ist Panzerlehre, Überlebenstraining im Wald, Sterne lesen und Waffenlehre im weiteren Verlauf des Gespräches in Zukunft total wichtig für besagte Kinder. [13]



Für die Politik einigen sie sich, dass es einen neuen Führer geben sollte, weil Autokratie [14] das einzig Richtige ist. Menschen brauchen Regeln und das ohne Diskussion. Überhaupt habe die heutige Rechtsbewegung ein cooles Gesamtkonzept [15]. An diesem Punkt bekennen sich beide auch zur NPD [16], obgleich ein rechter Klan [17] letztes Jahr versucht hat, sie abzuwerben. Jetzt wird mir klar, dass in Berlin wohl eine NPD Demonstration war.Eine kurze Gesprächspause füllt er mit einem Lied für Adolf. Ich glaub der BDM [18] hätte das nicht besser singen können. Die Melodie ist gar nicht so schlecht – fast ein Ohrwurm [19]. Der Text dreht mir den Magen um [20] und ich sehe mich nicht in der Lage, diesen hier nieder zu schreiben. Musikuntermalt schaue ich mich um. Alle sind seitdem das Paar laut redet still geworden und schauen so weit weg wie möglich. 



In Dortmund erwacht der ICE innen wieder zum Leben. Max und Leni haben das Feld geräumt. Als ich in Bochum aussteige ist es weit nach Mitternacht und die leere Stadt ist in einem orangenen Nebel getaucht. Ein Freund hätte in diesem Moment zu mir gesagt, dass so schon Horrorfilme angefangen haben.





[1] Da ich kürzlich die „Fusznote“ entdeckt habe, musste ich ihre Schreibweise nutzen, um von Ihnen zu erzählen. Mehr über das gelungene Literaturkritikprojekt an der Ruhr Universität unter fusznote.de. Des Weiteren möchte ich Fußnotensetzer sagen, dass ich diese eigentlich in hochgestellten Zahlen darstellen wollte, dies aber aus irgendeinem Grund von diesem Tippfenster im Browser nicht angenommen wird. Ich bitte um formale Entschuldigung.


[2] Tagsüber hatten wir schon Berlin Mitte vermieden, weil da wohl irgendeine Demo war. Ich glaub der Grund war ein Rechter.


[3] Sollte besagtes Paar sich wieder erkennen: Bitte nehmt es nicht persönlich.


[4] Aber vielleicht kommt da bei mir auch nur das Schwäbische und Unspontane durch...




[5] Farben haben Bedeutungen, oder?


[6] Sie heißt Nora und kuschelt sich immer an meinen Fuß. Wenn ich so darüber nachdenke, find ich das mittlerweile süßer als das Paar.



[7] Faszinierenderweise ist es wirklich so grell, wie wenn ein neuer BMW bei Nacht auf einen zufahren würde. Und es hilft natürlich, dass die Sonnenbrille verspiegelt ist und ich ungestört das Gespräch mit passenden Gesten mit zu verfolgen.




[8] Adolf Hitler lebte von 1889-1945. Der achte Buchstabe im Alphabet ist H. 88 war der Code für HH = Heil Hitler – Der nationalsozialistische Gruß zu Zeiten des Führers.


[9] In zerrissenen und Camouflage Klamotten würde ich vermutlich auch erstmal skeptisch sein. Die Neonschnürsenkel in grün und pink in den polierten Springerstiefeln helfen dabei einfach auch nicht.



[10] IMMER?




[11] Adolf Hitler


[12] Rudolph Heß war vor 1933 Hitlers Privatsekretär, stieg nach 1933 zum Minister und letztendlich zum Stellvertreter von Hitler auf. Er ist quasi der Inbegriff für die bedingungslose Verehrung des Führers.



[13] Und ich sitze hier und rate, dass ihr euch gerade erst kennen gelernt habt. Also wird direkt Nägel mit Köpfen gemacht? Ich bin schon sprachlos. Ihr sprecht weitaus detaillierter als hier beschrieben und legt schon die gesamte Zukunft eurer möglichen Kinder fest. Was wäre denn, wenn einer eurer Kinder Marx verehren möchte? Oder zum Judentum konvertieren möchte? Oder komplett Linkspolitisch irgendwann handelt? Oder euch nur bei der Wahl des Gemüses widerspricht?




[14] Autokratie bezeichnet Regierungsformen, bei denen alle Staatsgewalt unkontrolliert in den Händen eines Herrschers (= Autokraten) liegt und von diesem selbstherrlich ausgeübt wird. Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 4. aktualisierte Auflage Bonn: Dietz 2006.


[15/16] Das Parteiprogramm dieser Partei hat drei Stichworte: Arbeit, Famile und Vaterland. Sie stellt sich als Volkspartei da und auch bei längerer Lektüre finde ich es immer schwieriger, das alles in eine Fußnote unterzubringen. Ich halte für mich fest: Egal was da drin steht, es ist ein Programm wie jedes andere: Es hat gute Punkte, es hat schlechte Punkte. Leider aber finde ich mehr Punkte, die für mehr Menschen schlecht ausgelegt werden können. Aber auch verstehe ich nun ein bisschen besser, dass viele lediglich den Aspekt Familie („Die kleinste Gemeinschaft innerhalb unseres Volkes ist die Familie. Auf ihr fußen Volk und Staat, weshalb der Familie auch die besondere Zuwendung und Fürsorge des Staates zuteil werden muss.“) ansehen und sich deshalb mit dieser Partei identifizieren könnten. Auch Schlagwörter wie „Geborgenheit“ findet sich schnell: „Nationale Sozialpolitik verbindet soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft. Sie muss die Geborgenheit des Einzelnen in der Gemeinschaft sichern und den Einsatz des Einzelnen für das Ganze befördern.“. Auch die Aufrüstung des Landes und lediglich deutschgesinntes Handeln auch in der Außenpolitik wird angepriesen.
Überwiegend erschrocken hat mich folgender „Grundgedanke“ auf genannter Parteihomepage, welcher sich so liest: „Im 21. Jahrhundert entscheidet sich Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes. Existentielle Bedrohungen gehen vom Geburtenrückgang, einer rasch voranschreitenden Überfremdung, der Fremdbestimmung durch übernationale Institutionen und der Globalisierung mit ihren verheerenden Folgen aus.“. Plakativ ist auch ihre Propaganda. Des Weiteren ließ mich „Deutschland den Deutschen“ aufhorchen mit: „Gegen den Willen des deutschen Volkes wurden von Großkapital, Regierung und Gewerkschaften Millionen von Ausländern nach Deutschland eingeschleust. Durch massenhafte Einbürgerungen wird das deutsche Staatsbürgerrecht aufgeweicht und das Existenzrecht des deutschen Volkes in Frage gestellt.“. Denken denn manche Menschen wirklich, dass durch das Einladen von Ausländern die Existenz von unserem Volk in Frage gestellt wird? Ich kann ihnen nicht komplett folgen. Es gibt doch auch genug Deutsche, die gerne in ein anderes Land gehen. Und sind wir nicht auch einfach nur ein Baustein von der gesamten Welt? So, wie die Familie die kleinste Gruppe eines Volkes ist, so ist das Volk eine Gruppe der Gesamtbevölkerung der Erde? Oder ist das globale Denken an sich da unangebracht?
- Hier komme ich an den Punkt, wo ich das gesamte Programm nicht mehr weiterlesen möchte. Für jemanden, der wirklich mehr wissen will, sollte die offizelle Homepage der NPD besuchen.

 

[17] Sie hat im Gespräch auch die Homepage von diesem rechten Klan genannt. Leider habe ich diese URL nicht verifizieren können.




[18] Bund deutscher Mädel war zu Hitlerzeit das weibliche Pendant zu der Hitlerjugend (HJ).


[19] Einen Ohrwurm ist typisch für Hymnen. Darunter kann man auch Fußballgesänge setzen, die auf bekannte Ohrwürmer neuen Text legen. Es ist wissenschaftlich bekannt, dass gesungener Text schneller verinnerlicht wird und nur durch die Melodie in Erinnerung gerufen werden kann. Oft wurde dies schon als Propagandawerkzeug genutzt. Vermutlich auch hier.



[20] Der Text verherrlichte Nazigrößen und war eine Art Aufruf zum Kampf.
 
 
 
 
 

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